James’ Sicht
Gemeinsam mit Par und Bella betrat ich den Wald. Ich lief zwei Schritte hinter den beiden Mädchen und behielt dabei Par genau im Auge. Bislang hatte sie keine Anzeichen gezeigt, Schmerzen zu haben, was mich sehr beruhigte. Es war immer schrecklich gewesen, mit anzusehen, wie sie unter den Vorboten der Verwandlung litt. Aber je länger nichts passierte, desto unsicherer wurde ich.
Hatte es immer so lange gedauert, bis sie sich verwandelte? Ich war mir nicht sicher. Unser letzter gemeinsamer Vollmond war schon etwa ein halbes Jahr her. Auf jeden Fall schien es ihr recht gut zu gehen. Fast schon unbekümmert diskutierte sie mit Bella, welchen Teil des Waldes wir erkunden sollten.
Dann setzte ihre Verwandlung sehr plötzlich ein. Die einzige Vorwarnung, die wir bekamen, war, dass Par abrupt stehen blieb und sich auf den Boden kniete, bevor Augenblicke später die weiße Wölfin an dieser Stelle saß und uns neugierig ansah. Langsam stand sie auf und trat erst einen, dann einen zweiten Schritt auf mich zu. Instinktiv stolperte ich ein paar Schritte zurück. Hatte ich ein Glück, dass der Wolfsbanntrank anscheinend wirkte! Ich hatte die Animagus-Verwandlung so lange nicht mehr gemacht und war von ihrer plötzlichen Verwandlung so überrumpelt, dass es einen Moment dauerte, ehe ich die Form des Luchses angenommen hatte. Der Moment hätte ihr vermutlich gereicht, um mich anzufallen, wenn sie gewollt hätte. Doch das tat sie nicht. Sie stand einfach nur vor mir und schien sich ein Blickduell liefern zu wollen, ehe sie nach einer Weile den Kopf schief legte. Das machte sie für gewöhnlich, wenn sie besonders konzentriert nachdachte. Das war mir schön öfter beim Schach spielen und im Unterricht aufgefallen.
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Bella uns, nun als großer schwarzer Hund, genau beobachtete. Das schien auch Par zu bemerken, die sich nun von mir abwandte und ein lautes Heulen in Richtung des Mondes ertönen ließ, ehe sie loslief. Wir folgten ihr tiefer in den Wald.
Während wir in schnellem Tempo immer weiter ins Waldesinnere vordrangen, suchte ich Anhaltspunkte, ob wir in diesem Teil des Waldes schon mal waren. Ich konnte es ehrlich nicht sagen. Irgendwie sah für mich alles gleich aus. Um uns herum war es fast schon verdächtig still. Wo waren die ganzen Bewohner dieses Waldes? Wir waren noch nie so lange keiner Kreatur begegnet. War dieser Bereich des Waldes etwa so abgelegen, dass er unbewohnt war? Doch dann hörte ich etwas.
Ich blieb stehen und spitzte die Ohren. Bella und Par taten es mir gleich. Ganz leise und definitiv etwas weiter entfernt, hörte man ein Rascheln im Gestrüpp. Konzentriert versuchte ich herauszufinden, von wo genau die Geräusche kamen und drehte mich dann in diese Richtung. Dort lag eine mondbeschienene Lichtung, über die etwa ein Dutzend hellgraue Wesen huschten. Kurz wägte ich ab, was wir tun sollten. Sie wirkten eher scheu als gefährlich. Also schlichen wir uns neugierig und vor allem leise bis zum Rand dieser Lichtung und beobachteten geduckt das Geschehen. Jetzt, wo wir näher dran waren, konnte ich mehr erkennen. Die Wesen, die sich gerade im Kreis aufstellten, hatten, verglichen mit der Größe ihrer Köpfe, überdimensional riesige Glubschaugen, einen langen Hals und ziemlich dürre und kurze Beinchen, die in großen entenartigen Plattfüßen endeten. In anderen Worten: Sie sahen wirklich alles andere als gefährlich aus. Ich traute meinen Augen nicht ganz, als sie sich allesamt auf die Hinterbeine, die viel zu dünn aussahen, als dass sie ihr Körpergewicht halten dürften, aufstellten und begannen, auf dem schneebedeckten Boden der Lichtung eine Art Tanz zu vollführen. Gebannt beobachtete ich, wie sie erst in die eine Richtung im Kreis tanzten, dann die Richtung wechselten und dann, nach einem Schema, das ich nicht so recht durchschaute, in verschiedene Richtungen ausscherten, um kurz darauf wieder zusammenzufinden. Es war regelrecht hypnotisierend mit anzusehen. Keiner von uns traute sich, sich zu bewegen und damit möglicherweise dieses eigenartige, aber zweifelsohne faszinierende Ritual zu stören. Es dauerte eine ganze Weile, aber schließlich ließen sich die Wesen wieder auf alle vier Füße fallen und verschwanden genauso schnell und plötzlich wieder im dichten Gebüsch, wie sie aufgetaucht waren.
Daraufhin zogen wir weiter durch den Wald. Nach einer Weile hörten wir in der Ferne Hufgetrappel, woraufhin wir einen weiten Bogen um die Richtung, aus der es kam, machten. Wir hatten keine Lust auf eine Begegnung mit Zentauren.
Irgendwann blieb Par stehen. Als sie sich auf dem Boden zusammenkauerte, war mir klar, dass sie sich jeden Moment wieder zurückverwandeln würde. Bella und ich taten es ihr gleich.
“Ich kann nicht fassen, dass wir Mondkälber gesehen haben! Wisst ihr eigentlich, wie wenige Menschen das von sich behaupten können? Die sind super scheu!”, sprudelte Bella direkt drauf los.
Oh. So hießen die Kreaturen also. Ich gab ihr recht. Das war schon ziemlich cool. Allein dafür hatte sich der ganze Aufwand für heute Nacht gelohnt.
Ich zog gerade die Karte des Rumtreibers aus meiner Jackentasche, um zu checken, in welche Richtung es zurück zum Schloss ging, als mich etwas Spitzes durch den Stoff meiner Hose hindurch in die Wade traf. Überrascht und unter Schmerzen ließ ich die Karte auf den Waldboden fallen. Dort standen vier zwergenähnliche Gestalten mit roten Mützen, die uns etwa bis zu den Knien reichten. Aus dem Unterricht von Professor Lupin erkannte ich sie als Rotkappen wieder. Kleine hinterhältige, flinke Biester waren das! Der, der mich gerade angegriffen hatte, war dreist genug, sich Pars Karte zu schnappen, während die anderen mit kleinen Dolchen in ihren Händen auf uns zu stürzten. Doch sie kamen nicht weit, da Bella und Par zwei von ihnen zeitgleich Ganzkörperklammerflüche auf den Hals hetzten. Dem dritten schleuderte ich einen Schockzauber entgegen, dem er flink auswich. Der zweite Schocker, den ich los schickte, traf jedoch sein Ziel. Die vierte Rotkappe jedoch versuchte sich gerade still und heimlich mit der für sie viel zu großen Karte aus dem Staub zu machen. Ich zögerte. Petrificus Totalus könnte bewirken, dass wir die Karte nicht mehr aus ihrer versteinerten Hand bekamen. Fieberhaft ging ich in meinem Kopf alle Zaubersprüche durch, die mir einfielen. Doch Par hatte sich inzwischen für einen simplen Expelliarmus entschieden. Gefolgt von einem Accio, der die fallengelassene Karte geradewegs in ihre Hand fliegen ließ. Unabgesprochen schleuderten Bella und ich der schrill kreischenden Rotkappe jeweils einen Schockzauber entgegen. Diese verstummte augenblicklich und sackte bewusstlos am Boden zusammen.
Sehr zu meiner Erleichterung zeigte uns die Karte, dass wir gar nicht mehr so tief im Wald waren. Es dauerte also nicht lange, bis wir den Waldrand erreicht hatten. Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, dass mein Bein etwas von dem Angriff der Rotkappe schmerzte. Ich ging nicht davon aus, dass die Wunde sonderlich tief war, sie stach bloß ein wenig beim Gehen. Am Waldrand angekommen verabschiedeten Bella und ich uns von Par, die erst noch in den Krankenflügel zu Madam Pomfrey musste und warfen uns den Tarnumhang über. Ich brachte Bella erst zu ihrem Gemeinschaftsraum, ehe ich mich mit dem Tarnumhang auf den Weg zur Eingangshalle machte, um dort, wie zuvor abgesprochen, auf Par zu warten.